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Der jüdische Pianist und Komponist Wladyslaw Szpilman,
86, hat sich nach
Kriegsende seine Erinnerungen von der Seele geschrieben: In dem
Buch,
das 1946 in Polen erschien, erzählt er, wie seine gesamte
Familie
deportiert, er selbst jedoch von dem deutschen Offizier Wilm Hosenfeld
gerettet wurde. Danach hat er in den Erinnerungen nicht mehr gelesen.
Doch sein Sohn Andrzej, 41, konnte das Schweigen nicht hinnehmen.
Der
Zahnarzt und Musiker, der vor 15 Jahren nach Deutschland emigrierte,
überredete seinen Vater, das Buch jetzt auf deutsch herauszugeben
(»Das
wunderbare Überleben«, Econ Verlag). Außerdem
hat er eine CD mit
Szpilman-Werken gemacht (»Ein musikalisches Porträt«,
nur über den
Buchhandel erhältlich). Ein Gespräch zwischen Vater
und Sohn über eine
lebenswichtige Frage: erinnern oder schweigen?
Herr Szpilman, nach mehr als fünfzig Jahren werden die
Erinnerungen aus
dem Warschauer Ghetto noch einmal lebendig. Was für ein Gefühl
ist das?
Wladyslaw Szpilman: Ein furchtbares Gefühl. Ich bekomme
Depressionen,
besonders jetzt im Alter. (Zu Andrzej): Warum soll ich darüber
sprechen?
Ist das wichtig?
Andrzej Szpilman: Es ist sogar sehr wichtig.
Machen die Jahre es leichter, die Belastung auszuhalten?
Wladyslaw Szpilman: Nach dem Krieg habe ich wieder beim Polnischen
Rundfunk angefangen. Ich war so beschäftigt, daß ich
keine Zeit hatte,
nachzudenken. Jetzt bin ich alt und muß viel daran denken.
Ich sage
manchmal, daß ich schon zu lange lebe.
Wie ist das für Sie, Andrzej, Ihren Vater so leiden zu sehen?
Andrzej Szpilman: Es war bestimmt nicht einfach, an dem Buch
zu
arbeiten.
Wladyslaw Szpilman: Ach, der kann das doch nicht verstehen.
Der kannte
meine Familie nicht - noch nicht einmal vom Bild. Alles ist verbrannt.
Andrzej Szpilman: Können Sie sich das vorstellen? Alles,
was sich in den
anderen Familien über Generationen angesammelt hat, fehlt
uns. Vor zwei
Wochen habe ich erstmals ein Foto meiner Großeltern gesehen.
Haben Sie Ihrem Sohn von Ihrer Familie erzählt?
Wladyslaw Szpilman: Nein.
Warum nicht?
Wladyslaw Szpilman: Wozu sollte ich ihm das erzählen?
Der war jung! Er
hatte so ein Talent zur Musik, so ein gutes Leben. Sollte ich
ihm ein
Gift mitgeben? Daß die Mutter und der Vater und zwei meiner
Schwestern
und ein Bruder ins Gas geschickt wurden - sollte ich ihm das erzählen?
Haben Sie versucht, Andrzej die jüdische Kultur nahezubringen?
Wladyslaw Szpilman: Nein. Ich habe zu Hause auch keine jüdische
Kultur
gepflegt.
Sie waren also assimiliert?
Wladyslaw Szpilman: Leider. Mein Vater war ein Geiger. Er mußte
am
Freitag spielen.
Von Ihrer jüdischen Herkunft haben Sie erfahren, als Sie
das Buch Ihres
Vaters stibitzten. Was hat das für Sie bedeutet?
Andrzej Szpilman: Noch nicht so viel, ich war zwölf Jahre alt.
Wladyslaw Szpilman: Die jungen Leute sind nach dem Krieg geboren
und
sollen nichts darüber wissen, damit es sie nicht belastet.
War es richtig, daß Ihr Vater schwieg?
Andrzej Szpilman: Mein Vater hat das so entschieden.
Können Sie das respektieren?
Andrzej Szpilman: Ich habe keine Wahl gehabt.
Wladyslaw Szpilman: Wozu soll ich mit ihm darüber reden?
Andrzej Szpilman: Das ist meiner Meinung nach ein Fehler gewesen.
Warum?
Andrzej Szpilman: Als kleiner Junge mußte ich mir antisemitische
Witze
anhören, und ich habe selbst damit angefangen, wie jeder
andere
Antisemit. Dann mußte ich erfahren, daß ich selbst
ein Jude bin. Ich
wollte es nicht glauben.
Fühlen Sie sich heute als Jude?
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Wladyslaw Szpilman: Ich nicht. Ich bin ein Pole jüdischer
Abstammung.
Ich habe meinen Namen auch nicht geändert. Und mein Sohn
- soll er's
halten, wie er will.
Und? Wie halten Sie es?
Andrzej Szpilman: Ich bin halbe-halbe, sympathisiere aber mehr
mit
meiner jüdischen Hälfte. Durch den Antisemitismus mancher
Polen mag ich
meine polnische Hälfte weniger als die jüdische.
Wladyslaw Szpilman: Bei mir ist das anders. Die Musik ist meine
Identität.
Ihre Schlager liefen im polnischen Radio. Sie waren bekannt.
Andrzej Szpilman: Das ganze Land hat seine Lieder gesungen.
Fragen Sie
ältere Menschen.
Herr Szpilman, woran denken Sie, wenn Sie das Wort deutsch hören?
Wladyslaw Szpilman: Ich fahre jedes Jahr nach Deutschland.
Ich kenne
Orte, da waren Sie bestimmt noch nicht. Schwäbisch-Hall ist
so ein
kleiner wunderbarer Ort.
Andrzej Szpilman: Die Frage war, womit du das Deutsche verbindest.
Wladyslaw Szpilman: Für mich war es erstaunlich, daß
ein so großes und
zivilisiertes Kulturvolk Bücher verbrannt hat. Ich habe doch
hier
studiert, in Berlin an der Hochschule für Musik, 1931/1932.
Hilft Ihnen die deutsche Musik, zu verzeihen?
Wladyslaw Szpilman: Nehmen Sie Bach! Kann man aufhören,
Bach zu spielen?
Undenkbar. Oder Brahms, Beethoven? Das sind die größten
Komponisten.
Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, der "Judenstern"
sei für Sie wie
ein "Brandmal am ürmel" gewesen.
Wladyslaw Szpilman: Ich konnte das nicht ertragen und habe
damals eine
Depression bekommen. Zwei Monate habe ich im Bett gelegen und
wollte
überhaupt nicht mehr aufstehen.
Den anderen Menschen hat möglicherweise der Glaube geholfen.
Wladyslaw Szpilman: Sie fragen, ob ich gläubig bin. Wenn
man zusehen
muß, wie kleine Kinder getötet werden, wie sie an die
Wand geschlagen
werden, ganz ohne Grund, wie soll ich da an Gott glauben?
Kann man noch etwas fühlen, wenn man so etwas gesehen hat?
Wladyslaw Szpilman: Ich kann nicht fühlen, nein. Ich glaube
nicht mehr,
daß ich so etwas wirklich gesehen habe. Aber ich habe das
gesehen, mit
meinen eigenen Augen. Ein schlechter Mensch genügt, um die
ganze Welt
kaputtzumachen.
Genügt ein Mensch wie der Wehrmachtsoffizier Hosenfeld,
um Hoffnung zu
haben?
Wladyslaw Szpilman: Hosenfeld war ein wunderbarer Mann. Juden
oder nicht
Juden, er hat alle gerettet, auch Priester. Und ich bin sicher,
daß
solche Männer für jedes Land sehr viel wert sind. Als
ich ihn traf,
hatte ich keine Kräfte mehr. Da kam er und hat gesagt: "Haben
Sie keine
Angst." Er hat "Sie" gesagt, nicht "Du".
Die haben uns immer geduzt. Er
sprach nicht wie ein Nazi. Schon allein das hat mir geholfen.
Es war
unerhört.
In Ihren Armen ist ein kleines Kind gestorben.
Wladyslaw Szpilman: Nicht in meinen Armen. Als ich es in den
Armen
hatte, war es bereits tot. Ein Soldat hatte es auf dem Boden mit
den
Füßen totgetreten. Ein anderes Mal, es war im kleinen
Ghetto und es war
auch ein Sonntag, habe ich gesehen, wie ein Junge getötet
wurde, der
seine Mütze nicht abgenommen hatte. Der Soldat hat ihn mit
einer
einzigen Kugel erschossen.
Andrzej Szpilman: War das ein Soldat?
Wladyslaw Szpilman: Weiß ich nicht genau, ich war zu
weit davon
entfernt.
Andrzej Szpilman: Waren im Ghetto auch Soldaten?
Wladyslaw Szpilman: Nein, das war doch das Kommando, das diese
so
genannten Aussiedlungen gemacht hat.
Andrzej Szpilman: Wer war das eigentlich?
Wladyslaw Szpilman: Fragt er mich, wer das gemacht hat. Das
sind diese
Kommandos gewesen, das weißt du doch.
Andrzej Szpilman: Aber was waren das für Menschen? Soldaten? Polizei?
Wladyslaw Szpilman: Das waren keine Menschen, das waren SS-Leute.
Andrzej Szpilman: Also keine Soldaten?
Wladyslaw Szpilman: Nein! Die Wehrmacht hat nichts damit zu tun gehabt.
Andrzej Szpilman: Hat man in Warschau denn Wehrmacht gesehen?
Wladyslaw Szpilman: Nur zu Beginn des Krieges, junge Menschen,
die haben
ihre Arbeit gemacht.
Andrzej Szpilman: Und die waren freundlich?
Wladyslaw Szpilman: Wenn ich ihnen sagte, daß ich Musiker
bin, haben sie
mich in Ruhe gelassen.
Andrzej Szpilman: Wie war das genau?
Wladyslaw Szpilman: Das interessiert doch die Dame nicht.
Andrzej Szpilman: Aber mich!
Wladyslaw Szpilman: Die jungen Soldaten waren freundlich. Es
waren
Luftwaffen-Soldaten.
Andrzej Szpilman: Aha.
Wladyslaw Szpilman: Ja! Und ganz am Anfang, als das Ghetto
noch offen
war, sind sie zu meinem Haus gekommen und haben Leute zum Arbeiten
geholt. Sie kamen auch in meine Wohnung. Und ich saß da
und habe auf dem
Piano gespielt. Da sagten sie: "Soll er spielen!" Und
sind gegangen.
Andrzej Szpilman: Das war SS?
Wladyslaw Szpilman: Nein! Sag' ich doch! Es waren Soldaten!
Und was die
Generale der Wehrmacht betrifft: Der Hosenfeld, immerhin ein Offizier,
hat mir gesagt, daß der General überhaupt nichts über
die schlechten
Sachen wußte.
Andrzej Szpilman: Das heißt, im Ghetto waren nur SS-Leute,
Litauer,
Ukrainer und jüdische Polizei? Aber es gibt hier Behauptungen,
daß die
Wehrmacht-Soldaten sich an den Morden beteiligt haben.
Wladyslaw Szpilman: Davon weiß ich nichts.
Andrzej Szpilman: Und das Kind, das in deinen Armen starb?
Wladyslaw Szpilman: Das habe ich nicht gesehen.
Andrzej Szpilman: Du kannst dich bloß nicht mehr erinnern.
In deinem
Buch ist eine Szene beschrieben, wie ein Junge Essen ins Ghetto
schmuggelt. Er zog den Kopf durch das Loch in der Mauer, man hat
ihn von
hinten getreten, und seine Wirbelsäule ist zertrümmert.
Wladyslaw Szpilman: Das war 1942, ja. Und wieviel Zeit ist
seither
vergangen? Ich möchte mich nicht daran erinnern.
Andrzej Szpilman: Wann hast du dein Buch zuletzt gelesen?
Wladyslaw Szpilman: Ich hab' es nicht mehr gelesen - und Schluß!
Andrzej Szpilman: Wirst du das Buch lesen, an dem wir hier
neun Monate
lang gearbeitet haben?
Wladyslaw Szpilman: Nein. Ich möchte diese Hölle
nicht noch einmal
überleben! Du kannst mich nicht dazu zwingen!
Andrzej Szpilman: Das will ich auch nicht. Keiner verlangt das.
Wladyslaw Szpilman: Du verlangst das. Aber ich möchte
vergessen, daß ich
das überlebt habe. Ich muß ruhig sterben. Ich war nach
dem Krieg nie in
Treblinka (zeigt auf seinen Sohn): Der war dort! Ich nicht. Meine
ganze
Familie ist dort ermordet worden. Dort platzt mein Herz.
Andrzej Szpilman: Du sollst auch nicht hinfahren.
Wladyslaw Szpilman: Aber du warst dort!
Andrzej Szpilman: Ich bin hingefahren. Da habe ich zum ersten
Mal
erfahren, wo das Ghetto in Warschau überhaupt war. Können
Sie sich das
vorstellen? Ich habe 27 Jahre dort gelebt und nicht gewußt,
wo Ghetto
und Umschlagplatz waren. Wo die Treppe war, hat meine Oma gelebt,
st
immt's?
Wladyslaw Szpilman: Ja.
Andrzej Szpilman: Wir waren tausendmal da. Aber er hat nie
gesagt, daß
an dieser Ecke das Haus meiner Oma stand. Wie sollte man das wissen,
daß
man Jude ist, wenn man nicht mal wußte, wo das Ghetto war.
Überall gibt
es Denkmäler für die polnischen Widerstandskämpfer.
Aber es gibt keine
Denkmäler für die Juden, obwohl ein Drittel der Bevölkerung
von Warschau
Juden waren.
Wladyslaw Szpilman: Unsinn.
Andrzej Szpilman: Außer einem Monument.
Wladyslaw Szpilman: Einem großen Monument!
Andrzej Szpilman: Wo der Umschlagplatz gewesen ist, war vor
fünfzehn
Jahren noch eine Tankstelle. Am Platz der Deportation habe ich
mein
Leben lang getankt.
Und auch das Haus Ihrer Mutter wollten Sie nicht zeigen?
Wladyslaw Szpilman: Es war nur eine Ruine. Man hat ein neues
Haus
gebaut.
Ihr Bruder, Henryk, könnte vielleicht noch leben, wenn
er sich nicht
geweigert hätte, jüdischer Polizist zu werden.
Wladyslaw Szpilman: Ich hab' ihm gesagt, er soll es machen.
Aber er hat
gesagt: nein. Drei Monate zuvor hatten sie ihn schon mal geschnappt,
ich
bin dann zur jüdischen Polizei gegangen und habe für
meinen Bruder
gesprochen. Und er durfte gehen. Als mein Bruder nach Hause kam,
sagte
er: Wie kannst du nur zu so einem schmutzigen Mann gehen und ihn
darum
bitten, daß ich freikomme. Ich sagte: Wenn nicht, dann wärst
du nach
Treblinka gegangen.
Andrzej Szpilman: Wußte man da schon, was das bedeutet?
Wladyslaw Szpilman: Ich wußte das genau.
Andrzej Szpilman: Wußten es alle?
Wladyslaw Szpilman: Ich habe keine Umfrage gemacht. Manche
Leute wußten
das. Wir wollen nicht weiter darüber reden. Sie werden nicht
gut
schlafen. Und ich werde auch nicht gut schlafen. Das ist vorbei.
Allein
daß ich lebe, ist ein Wunder.
Dennoch ist es gut, daß Sie das Wunder an Ihren Sohn
weitergeben
konnten. Und jetzt, durch das Buch, an viele andere Menschen.
Wladyslaw Szpilman: Ich habe es nicht an ihn weitergegeben.
Er hat es
sich genommen. Er hat das erste Buch heimlich gelesen. Jetzt hatte
er
die Idee, es noch einmal erscheinen zu lassen. Er hat die ganze
Arbeit
gemacht. Haben Sie das Foto auf dem Buch gesehen? Das wunderbare
Foto
hat er gemacht. Ich habe nichts dazu beigetragen.
Andrzej Szpilman: Jetzt habe ich eine CD mit deiner Musik
herausgebracht. Freut dich das gar nicht?
Wladyslaw Szpilman: (lacht). Du bist ein phänomenaler Mann.
Andrzej Szpilman: Aber du weißt genau, daß das Buch wichtig ist?
Wladyslaw Szpilman: Für mich ist es nicht wichtig.
Andrzej Szpilman: Für dich nicht. Aber es gibt hier wieder
Neofaschisten.
Wladyslaw Szpilman: Und die Neofaschisten bleiben Neofaschisten,
mit
oder ohne mein Buch.
Andrzej Szpilman: Es gibt Leute, die wollen keine Geschichten
aus der
Vergangenheit mehr hören.
Wladyslaw Szpilman: Manche sagen das. Aber das Volk hat 80
Millionen
Leute. Und es sind vielleicht hundert Menschen, die das sagen.
Andrzej Szpilman: Vielleicht ist es an der Zeit, daß
man darüber nicht
mehr redet?
Wladyslaw Szpilman: Unsinn. Man muß verhindern, daß
die Leute vergessen.
Aber in Deutschland kommt kein neuer Faschismus.
Andrzej Szpilman: Nein?
Wladyslaw Szpilman: Nein! Die Leute sind zu klug dafür.
©DS - Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt,
6. März 1998, Nr.10 1998