Das Nocturne cis-Moll, dieses Klavierstück von Chopin,
hat eine ganz besondere Bedeutung im
Leben von Wladyslaw Szpilman. Es markiert Anfang und Ende einer
sechsjährigen Leidensgeschichte. Am 23. September 1939 spielt
er, 28
Jahre alt, dieses Stück im Polnischen Rundfunk. Warschau
steht unter
Beschuß, in dem Geschützdonner hört der junge
Pianist kaum die Klänge
des Flügels. Das Nocturne cis-Moll war das letzte Stück
live gespielter
Musik, bevor deutsche Bomben den Sender lahmlegten.
ÝÝÝSechs Jahre später, 1945, wird Szpilman
wieder am Klavier vor dem
Hörfunkmikrophon sitzen. Er wird jenes Chopin-Stück
zur Wiederaufnahme
des Sendebetriebs des Polnischen Rundfunks spielen. "Wenn
ich Chopin
spiele, spüre ich das", sagt der 86jährige Szpilman
heute. Chopin ruft
in ihm die Erinnerungen an die Jahre wach, in denen der Polnische
Rundfunk schwieg. Sechs Jahre des nationalsozialistischen Terrors.
ÝÝÝ1940 werden die Warschauer Juden ins Getto
gesperrt. Zwei Jahre
später steht Szpilman mit seinen Eltern und seinen Geschwistern
auf dem
"Umschlagplatz". Seine Familie wird in die Viehwagen
gepfercht, deren
Ziel das Vernichtungslager Treblinka ist. Er entkommt der Deportation,
polnische Freunde verstecken ihn.
Nach dem Warschauer Aufstand 1944 bleibt Szpilman in den Ruinen
der
menschenleeren Stadt. Immer auf der Flucht, immer hungrig auf
der Suche
nach Nahrung, in Todesangst. "Das Schwerste war die Einsamkeit",
sagt
er. Fünf Monate hat er mit niemandem gesprochen. Bis auf
die wenigen
Worte, die er mit dem deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld wechselte.
Es
war jener deutsche Hauptmann, der Szpilman das Leben rettete.
Hosenfeld
überrascht den ausgezehrten Szpilman im November 1944. Er
hilft
Szpilman, ein neues Versteck zu finden, versorgt ihn mit Lebensmitteln.
Hosenfeld war voller Scham ob der Untaten seiner Landsleute. Der
Lebensretter stirbt 1952 in einem sowjetischen Internierungslager.
Auszüge aus seinem Tagebuch, in dem er von dem Nazi-Terror
berichtet,
sind im Anhang von Szpilmans Buch erstmals veröffentlicht.
ÝÝÝDirekt über den Köpfen der Deutschen,
im Haus des Warschauer
Festungskommandos hatte er sein letztes Versteck. "Die haben
nie auf den
Dachboden geschaut", sagt Szpilman, und ein schelmisches
Lächeln huscht
über sein Gesicht. Als amüsiere es ihn, daß er
die Nazis überlistete.
ÝÝÝTrauer aber kehrt in seine Augen zurück,
als er sich erinnert: "Ich
hatte einen Traum, dort, in den Ruinen. Meine Mutter spielte Chopins
Trauermarsch auf dem Klavier und weinte." Szpilmans Mutter
war zu jenem
Zeitpunkt schon tot.
ÝÝÝGleich nach dem Krieg schrieb Szpilman
sein Buch, das von Montag an
auf dem deutschen Markt zu kaufen ist. Freunde hatten ihn damals
überredet, Erlebtes und Erlittenes zu Papier zu bringen.
"Ich bin kein
Schriftsteller. Ich habe keine Lust am Schreiben", sagt Szpilman.
Damals
hätten die Freunde ihn überzeugt. Um ein Dokument der
Zeitgeschichte sei
es ihm gegangen. Mit seinen genauen Schilderungen des Alltags
wie auch
des kulturellen Lebens im Getto liefert Szpilman zahllose Fakten
jener
Jahre. Und zugleich offenbaren sich dem Leser die sehr persönlichen
Gefühle eines Mannes, der dem Tode sehr nahe war.
ÝÝÝDie Sprache ist fast kühl, der Ton
zurückhaltend. Es ist eben dieser
schonungslose Realismus, der Szpilmans Aufzeichnungen so anrührend
macht.
ÝÝÝSeit er seine Erinnerungen 1945 niedergeschrieben
hatte, hat Szpilman
kaum mehr über den Krieg gesprochen. Auch mit seinen beiden
Söhnen
nicht. Sohn Andrzej, der den deutschen Band herausgegeben hat,
erfuhr im
Alter von zwölf Jahren von den Kriegserlebnissen seines Vaters,
als er
die polnische Ausgabe heimlich aus dem elterlichen Bücherregal
fischte.
Szpilman stürzte sich in ein neues Leben. Er arbeitete
wieder beim
Polnischen Rundfunk, wurde später dort Chef der Musikabteilung,
spielte
und komponierte. Er gab Konzerte, fuhr mit dem Warschauer
Klavierquintett um die Welt. "Dreimal waren wir auf Konzertreise
in den
USA, jedesmal sechs Wochen. Und das Publikum war großartig."
Szpilmans
dunkle Augen leuchten lebendig. "In den größten
Sälen haben wir
gespielt. Auch in Deutschland. Ich erinnere mich, die Atmosphäre
in der
Hamburger Musikhalle, das war wunderbar." Dort gab er im
März 1985 auch
seinen Abschied von den Konzerthallen der Welt.
ÝÝÝ
Mit Deutschland verbindet Szpilman die Künste,
die er schätzt. "Die
Deutschen haben die größte Musik, die größte
Poesie." Haß auf sie
verspürt Szpilman nicht. "Für mich zählt der
Mensch. Egal welcher
Abstammung." Vor dem Krieg hat Szpilman zwei Jahre an der
Akademie der
Künste in Berlin studiert, schwärmt noch heute von Arthur
Schnabel,
seinem Lehrer.
ÝÝÝMehrere symphonische Werke und fast 1500
Lieder, davon 500 in Polen
beliebte Schlager, hat er in seinem Leben komponiert. "Die
Musik ist
mein Leben", sagt Szpilman. Die schmerzlichen Erinnerungen,
so scheint
es, hat er mit seiner Musik beiseite geschoben. Traurige Kompositionen
hat Szpilman nicht verfaßt. Seine Stücke sind leicht.
Für ihn ist "die
Musik die lebendigste Kunst". Sie lebt in ihm. Und sie war
seine
Zuflucht. Seine Musik war es, die ihn ein Leben lang beschäftigt
hat,
vor den Abgründen bewahrte, die der Nazi-Terror aufgerissen
hatte.
ÝÝÝSie war ein grausames Intermezzo, die
sechsjährige Kriegshölle, in
diesem Leben für die Musik. Ein Kollege hat einmal zu ihm
gesagt: "Wenn
du alt bist, wirst du daran denken." Er hatte recht. "Die
Erinnerungen
kommen immer öfter", sagt der greise Herr leise.
ÝÝÝBald werden sich sehr viele Menschen an
sein Schicksal im Krieg
erinnern. Und vielleicht werden sie dann Chopin mit ganz anderen
Ohren
hören. Wenn Wladyslaw Szpilman nämlich dieses cis-Moll-Nocturne
spielt,
scheint sein Leben darin wiederzuklingen.
HAMBURGER ABENDBLATT 26.02.1998