VON THOMAS MAYER
Das erste Wort gehört
Wolf Biermann: "Ein Mensch,der in die Höllen
des Holocaust geriet
und dennoch dieses Inferno überlebte muß
ja ein Wunder auf zwei Beinen sein. Aber nicht
jeder kann es so tief und wahr, so traurig und so selbstironisch
erzählen wie dieser Pianist und Komponist, also dieser jüdische
Spielmann mit dem polnischen Namen Wladyslaw Szpilman."
Ein Jahrhundert-Leben ist zu erzählen. Spielmann!
Was für ein Name für einen Musiker, für
einen Komponisten. Er wird 1911 in Sosnowiec geboren.
Er studiert Musik an der Chopin- Hochschule
für Musik Warschau und an der Akademie der Künste
Berlin. Er schreibt rund 500 Lieder, Filmmusiken und sinfonische
Werke und reist mit dem Warschauer Klavierquintett
um die Welt. Heute lebt er hochbetagt in Warschau. Wo er
auch überlebte. Als einziger seiner Familie kommt Wladyslaw
Szpilman mit dem Leben aus dem Warschauer Ghetto
davon. Gleich nach dem Krieg schreibt er seine Erinnerungen
an das "wunderbare Überleben" auf. Das Buch kommt
heraus, verschwindet freilich bald wieder aus den Buchhandlungen.
Eine jüdische Geschichte ist nicht sonderlich gefragt im
neuen Polen. Auch der auf ihr basierende Film "Der
Robinson von Warschau", zu dem berühmte Literaten wie
Czeslaw Milosz und Jerzy Andrzjewski das Drehbuch liefern ist
bald im Archiv verschwunden.
AIso wird das Buch mehr als 50 Jahre vergessen. "Ich
will es nicht. Es interessiert mich nicht mehr. Ich will
diese Hölle nicht noch einmal erleben" sagt Vater
Wladyslaw zu seinem Sohn Andrzej. Der hält sich aber nicht
daran und entreißt es für die Nachgeborenen der
Vergesenheit. Weil er überzeugt ist. "... daß
Vaters Geschichte erzählt werden muß. Gerade heute!".
Andrzej lebt seit 15 Jahren in Hamburg, er ist Zahnarzt
und betreibt zudem ein Aufnahmestudio, verlegt CDs, jetzt auch
vom Vater und dazu von Wolf Biermann. "Ich wußte lange
nicht, was mein Vater erlebt hatte. Ich wußte segar nicht,
daß ich jüdischer Abstammung war. Bis ich in Vaters
Schrank suchte und das Buch fand. Das Leben spielt schon verrückt
..."
Wladyslaw Szpilman entgegnet: Ich habe meinem
Sohn nie von meiner Familie erzählt. Er war so jung und führte
ein so gutes Leben. Sollte ich ihm etwa Gift mitgeben? Daß
die Mutter und der Vater und zwei meiner Schwestern und ein Bruder
ins Gas von Treblinka geschickt wurden - warum sollte ich ihm
das erzählen?" Ein jüdischer
Ghetto-Polizist sortiert den jungen Musiker 1944 aus der Reihe
der Todgeweihten auf dem "Umschlagplatz", wo für
die Ghetto-Juden,wie Vieh in stickigen Waggons zusammengepfercht,
der Weg ins Verderben beginnt.
Wladyslaw Szpilman ist bereit, heute in Warschsau die Stätten,
die ihn erinnern an sein Überleben, wieder aufzusuchen. "Nach
dem Umschlagplatz fragen Sie ihn bitte nicht", sagt
Sohn Andrzej. "Hier.sah Vater seine Familie zum
letzten Mal. Hier stückelten sie ein Bonbon in
sechs Teile, damit jeder nochmal etwas Süßes
schmeckte. Der junge hat den alten Szpil- man - längst
Wußte auch Wolf Biermann von dem Buch - gedrängt,
sein Überleben zu veröf- fentlichen. Nicht
nur, weil es von einem Lebenswunder berichtet, sondern
auch, weil es das Dasein im Ghetto so eindringlich schildert."Wer
weiß schon, was ein Ghetto ist? Ein Lager? Ein
Zuchthaus? Mein Vater beschreibt, wie innerhalb dieses
für heute undefinierbaren Raumes ein fast normales Leben
stattfand. Wußten Sie, daß in den Cafes
sogar Jazz gespielt wurde?"
Der Sohn fragt den Vater, ob er das Buch, daß
er vergessen wollte
noch mal lesen wird: "Nein! Weil ich die Hölle nicht
noch mal überleben möchte. Du kannst mich dazu nicht
zwingen". Wladyslaw Szpilman war nach dem Krieg auch
kein einziges Mal in Treblinka: "Dort wurde mir das Herz
platzen." Jenseits dieser Schrekkensstätte befallen
den alten Mann Selbstanklagen: ,,Warum habe gerade ich überlebt?"
Warum? Weil ihm ein Wehrmachts-0ffizier das Leben rettet: Hauptmann
Wilm Hosenfeld. In der Aleja Niepodleglosci 223 hat sich Szpilman
die letzten Monate des Krieges versteckt. Oft nah dem Tod, geistert
er wie ein Gespenst durch die Häuserblocks, immer Gefahr
laufend, entdeckt zu werden. Ich saß auf dem Stuhl neben
der Speisekammertür. Mit nachtwandlerischer Sicherheit fühlte
ich plötzlich, daß mir die Kräfte fehlen würden,
um dieser neuen Falle zu entrinnen. Ich saß und ächzte
und starrte dumpf auf den Offizier "... Machen Sie mit mir,
was Sie wollen ..." - "Ich habe nicht die Absicht, Ihnen
etwas zu tun... Was sind Sie von Beruf?" (Szpilman
ergänzt sein Buch:"Er Sagte wirklich: Sie!")
- "Pianist..." Und: folgt dem Offizier. In einem
Raum stand ein Klavier: "Spielen Sie etwas!" Szpilman
spielt Chopins Nocturne cis-Moll. Mit dem selben Stück
eröffnet er 1945 den Sendebetrieb des Rundfunks in
Warschau. Was geschieht mit Wilm Hosenfeld?
Er stirbt 1952 im Alter von 57 Jahren. von den Russen
der geheimdienstlichen Tätigkeit bezichtigt,
trotz Intervention der polnischen Regierung in einem
Gefangenenlager in Stalingrad. Für Andrzej ist damit das
Buch seines Vaters noch aus einem anderen Grund wichtig:
"Wir haben gute Kontakte zur Familie Hosenfeld und
können deshalb Auszüge aus Wilms Tagebuch veröffentlichen."
Der Hauptmann in seinen Aufzeichnungen von 1942 bis 1944:
,,Überall herrscht Terror, Schrecken und Gewalt
... Jetzt ist der letzte Rest der jüdischen Einwohner
im Ghetto ausgetilgt ...
Ein SS-Sturmbannführer prahlte damit, wie sie
die Juden, die aus den brennenden Häusern stürzten,
zusammengeknallt hätten...
Das ganze Ghette ist eine Brandruine...
Wir haben einen unaflöschlichen Fluch auf uns geladen...
Ich schäme mich, in die Stadt zu gehen, jeder Pole hat das
Recht, vor uns auszuspucken ... In Treblinka
werden die Züge mit den Viehwaggons ausgeladen, viele der
transportierten Menschen sind schon tot. Die Toten werden neben
den Gleisen aufgeschichtet, die gesunden Männer müssen
die Leichenberge wegschaffen, neue Gruben graben und die gefüllten
zuwer- fen. Dann werden sie erschossen, Frauen und Kinder müssen
sich entkleiden, werden in eine fahrbare Baracke getrieben und
werden da vergast. Wir sind alle mitschuldig."
Andrzej Szpilman sagt fragend: Die Aussagen widerlegen die These
vom "Wir haben doch nichts gewußt", oder?"
Auch das letzte Wort hat Wolf Biermann: "ln Yad
Vashem, der zentralen Gedenkstätte der Juden
in Jerusalem, gibt es eine "Allee der Gerechten".
Dort wurden Bäumchen gepflanzt, immer für
einen "Goj", der in der Zeit des Holocaust
Juden gerettet hat. Ich werde einiges versuchen,
damit dort bald ein Bäumchen für Hauptmann
Wilm Hosenfeld wächst, bewässert mit den
Wassern des Jordans. Und wer soll es pflanzen? Na,
wer schon - Wladyslaw Szpilman, und sein
Sohn Andrzej wird ihn dabei stützen."
Darüber müte auch berichtet werden!
Wladyslaw Szpilman: Das wunderbare Überleben. Warschauer
Erinnerungen 1939-1945. Aus dem Polnischen von Karin
Wolff. Econ Verla8, Düsseldorf 1998, 240
Seiten, 39.80 Mark. Die CD .Wladyslaw Szpilman -
Ein musikalisches Porträt" mit Musik von
Szpilman, Rachmaninow und Chopin ist im Buchhandel erhältlich,
unverbindliche Preisempfehlung.29.80 Mark.,
Am Donnerstag (26.3.) ist Wladyslaw Szpilmann in
Leipzig. Abends diskutiert er mit Arno Lustiger, Hannes
Heer, Wladyslaw Bartoszewski und Wolf Biermann.
(20 Uhr, Deutsche Bücherei)