Vom Überleben im Auge des Orkans

Wladyslaw Szpilmans wunderbare Rettung

 Von SUSANNE STHR
Wie gut, daß Wolf Biermann Zahnschmerzen hatte. Sonst wäre er wohl nicht
nicht in der Ottenser Praxis von Andreas Szpilman gelandet. Als er auf
dem Behandlungsstuhl lag, konnte er noch nicht ahnen, daß dieser
Zahnarzt Sohn des bekannten polnischen Pianisten und Komponisten
Wladyslaw Szpilman war. Auch nicht, daß Vater Szpilman schon 1946 die
abenteuerliche Geschichte veröffentlicht hatte, wie er als Jude im
besetzten Warschau dem Holocaust entkam. Das alles erfuhr Wolf Biermann
erst, als er mit Andreas Szpilman längst befreundet war ? und die Sache
ließ ihm keine Ruhe mehr.

Einem banalen Zufall ist es zu verdanken, daß Wladyslaw Szpilmans
Warschauer Erinnerungen, "Das wunderbare Überleben", 52 Jahre nach ihrer
Entstehung erstmals in deutscher Sprache vorliegen. Bei der Präsentation
in der Musikhalle erklärte Econ-Verleger Christian Strasser, noch nie so
rasch einen Autorenvertrag geschlossen zu haben ? Wolf Biermann sei
Dank. Der indes relativierte seine Verdienste: ìIch habe nur eine Tür
aufgestoßen. Dieses Buch brauchte keine Hebamme." Was Wladyslaw
Szpilmans schreckensvolle Chronik, die immer wieder von Selbstironie
gebrochen wird, aus der zahlreichen ìShoa"-Literatur, den vielen
erschütternden Dokumenten von Überlebenden, hervorhebt, ist die
wunderbare Geschichte seiner Rettung ? durch einen Wehrmachtsoffizier.
Die Geschichte hat der Autor ìim tiefsten Schock, in der noch
schwelenden Asche des Weltbrandes" niedergeschrieben.

Der hochtalentierte junge Pianist, Schüler von Arthur Schnabel, hatte
schon vor dem Krieg mit den Großen seiner Zeit musiziert: Hendryk
Szeryng, Ida Haendel, Bronislaw Gimpel. Das nützte ihm aber nach dem
Einmarsch der Nazis gar nichts mehr: 1940 wurde er, wie alle Juden der
Stadt, ins Ghetto verbannt, 1942 sollte die Familie nach Treblinka
deportiert werden. Auf dem ìUmschlagplatz", wo die Viehwaggons zum
Abtransport schon warteten, wird er aus der Reihe der Todgeweihten
aussortiert; Vater, Mutter, die Schwester und der Bruder endeten im Gas,
auf Wladyslaw Szpilman warteten drei weitere Jahre im menschengemachten
Inferno. "Mindestens fünfzigmal dachte ich: Jetzt werde ich sterben",
erzählt Szpilman.

 
Zum Beispiel im Winter 1944 / 45, als er schon fünf Monate in den Ruinen
des zerbombten Warschau vegetiert hatte- "ich war ein Tier,
ungewaschen, mit langen, zotteligen Haaren und einem Bart bis zur
Brust." - "Hände hoch!" schallte ihm da die Stimme des Hauptmanns Wilm
Hosenfeld entgegen - doch der Häscher entpuppte sich als Helfer. Auf dem
Dachboden des deutschen Festungskommandos, im Auge des Orkans, zeigte
Hosenfeld dem entkräfteten Szpilman ein neues Versteck und versorgte ihn
dort mit Lebensmitteln.

"Wilm Hosenfeld, einem Deutschen, verdanke ich mein Leben", sagt
Wladyslaw Szpilman. Seinem Retter ist er nach dem Krieg nicht mehr
begegnet- der starb 1952 im sowjetischen Lager, verurteilt zu 25 Jahren
Zwangsarbeit. Ein postumer Dank ist es, wenn Szpilman Auszüge aus dem
Kriegstagebuch des Hauptmanns im Anhang zu seinen Erinnerungen abdrucken
läßt. Und noch eines möchte der heute 86jährige Szpilman durchsetzen:
Wilm Hosenfeld zum Gedenken soll ein Bäumchen in Yad Vashem gesetzt
werden, in der "Allee der Gerechten". Denn in den Kreis der wenigen
Mutigen, die dem todbringenden Gehorsam mit Courage trotzten, gehört er.
 

DIE WELT, 27.2.1998
 

 



 

Doppelt schaudern vor Wahrheit und Wirklichkeit

Wladyslaw Szpilmans ,,Wunderbares Überleben"

Von PETER DITTMAR
Die Wahrheit entspricht nicht der Wirklichkeit. Das ist das Dilemma der Bücher von Männern und Frauen, die dem Mord an den Juden entrinnen konnten. Inzwischen gibt es viele solcher Berichte, vor allem aus Polen (z. B. in der Judaica-Reihe des Leipziger Reclam- Verlages), die sich im Grundmuster des namenlosen Schreckens glei- chen und in den Beispielen von Zufall, selbstloser Hilfe, günstigen Umständen, die das Überleben möglich machten, unterscheiden. Was da erzählt wird; ist meist eine grauenhafte Wahrheit. Denn wer den wahllosen Morden an Juden beim Einmarsch der deutschen Wehmacht in Polen; der Ghettoisierung und den Deportationen entkam, lebte meist mehrere Jahre in unmenschlichen Verstecken, ständig bedrängt von der Furcht vor der Entdeckung, die den sicheren Tod bedeutete. Und trotzdem ist jeder, der diese Erlebnisse noch erzählen kann, eine ganz große Ausnahme, weil er den Millionen gegenübersteht, denen das Schicksal in seiner grausamkeit diese kleine Gnade nicht gewährte. Die Wirklichkeit waren millionenfach Mord und Tod. Auch Wladyslaw Szpilman gehört zu diesen Ausnahmen.,,Das wunderbare Überleben" hat er seine Erinnerungen überschrieben. Der Pianist vom Jahrgang 1911 überstand die Besetzung.Warschaus. Er durchlebte das Ghetto, und weil ihn jemand, der ihn kannte, bei der Deportation hinter die Absperrung zog und einem Arbeitskommando zuteilte, entging er Auschwitz oder Treblinka. Kurz vor dem Ghetto-Aufstand gelang ihm die Flucht in den "arischen" Teil der Stadt, wo ihn Freunde verbargen. Nach dem Warschauer Aufstand versteckte er sich in Ruinen, mußte hungern, frieren, jede Minute Entdeckung, Verrat und Tod fürchten. Einer dieser Momente war, als er plötzlich einem deutschen Offizier gegenüberstand. Der aber verhielt sich ,,unnatürlich". Er half dem Manne, der sich als Jude zu erkennen gab, sich unter dem Dach des Hauses zu verbergen, in dem sich die Wehrmacht eingerichtet hatte. Er versorgte ihn mit Lebensmitteln, mit Decken, so daß Szpilman die Zeit bis zum Abzug der Deutschen überstehen konnte. Das ist zum einem bemerkenswert an diesem Buch, das selbst ein ungewöhnliches Schicksal hatte. Zuerst war es unmittelbar nach dem Kriege gedruckt worden. Im kommunistischen Polen konnte es jedoch nicht neu aufgelegt werden, weil ein menschlicher Deutscher den Propagandamustern widersprach. Auch liebte man die Juden nicht so sehr, daß man ihnen zubilligte, vom verrat zu sprechen, zu denen so mancher Pole auf Kosten der Juden bereit war. Die Auflage, die jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, wurde noch um ein wesentliches Element bereichert, das es zum anderen aus ähnlichen Schilderungen herausragen Iäßt. Das sind Auszüge aus dem Tagebuch von Wilm Hosenfeld, dem Offizier, dem Szpilmann das Uberleben verdankt. Der war zwar gefangengenommen worden und ist recht elend sieben Jahre später in einem sowjetischen Lager gestorben, doch seine Aufzeichnungen hatte er im letzten Moment seiner Familie schicken können. Die hat Szpilman, der den Namen nicht kannte - er wollte sichergehen, daß er im Falle der Entdeckung seinen Retter nicht verraten konnte -, sehr viel später ausfindig gemacht. Dieses Tagebuch ist ein wichtiges Zeugnis. Es widerspricht der Behauptung, von den Greueln und Judenmorden hätte niemand etwas gewußt. Im April 1942 notiert Hosenfeld, daß in Lietzmannstadt hundert Männer ,,man kann sagen: unschuldig erschossen worden" sind. Und am selben Tag schreibt er von Auschwitz:,,Um schnellen Prozeß zu machen, treibt man die Unglücklichen in eine Gaszelle und tötet sie mit Gas." Das sind in diesem Tagebuch keine vereinzelten Ereignisse. Immer wieder registriert Hosenfeld voller Entsetzen die Nachrichten von Erschießungen und Morden, von Raub und sinnlosen Zerstörungen. Deshalb ist es wenig wahrscheinlich, daß das, was der Hauptmann in der Etappe erfuhr, nicht auch andere an der Front und hinter der Front erfahren haben sollten. Das Buch lehrt ein doppeltes Schaudern, weil es weder der Wahrheit noch der Wirklichkeit ausweicht.

Wladyslaw Szpilman: Das wunderbare Überleben. Econ Verlag, Düsseldorf. 232 S, DM 39,80

DIE WELT, 06.03.1998